Mathias Mertens
Mythologie und Rhetorik. Möglichkeiten einer Medienkulturwissenschaft
Antrittsvorlesung als Privatdozent an der Universität Hildesheim am 29. Januar
2009
1. Legitimation der Medienwissenschaft
Der das hier erzählt, ist ein ausgebildeter Literaturwissenschaftler.
Ein Literaturwissenschaftler, der erklärt, was Medienwissenschaft ist, weil er
sie sich selbst beigebracht hat und aus eigenem Antrieb betreibt. Ein Dilettant
also. In dieser Eigenschaft aber durchaus typisch. Denn das Merkmal von
Medienwissenschaft in der Vergangenheit und auch noch in der Gegenwart ist,
dass sich ihre Akteure selbst gesetzt haben. Und auch, dass sie in der Mehrheit
Literaturwissenschaftler waren.
Dieses Phänomen muss erklärt werden und wird
erklärt. Immer wieder. Man kann sogar behaupten, Medienwissenschaft besteht
zunächst einmal darin, zu erklären, warum man sich als Literaturwissenschaftler
zum Medienwissenschaftler machen kann. Der erste Teil der Erklärung lautet:
Diese Metamorphose der Wissenschaftler ist Symptom für einen Wandel der
Gesellschaft, die für ihre Selbstverständigung immer weniger auf die Schrift
angewiesen ist und sich zunehmend auf andere Weisen der Wahrnehmung stützt, so
dass sich auch ihre Selbstreflexion auf diese anderen Weisen beziehen muss. Der
zweite Teil der Erklärung schließt daran an: Dass diese Metamorphose so
selbstverständlich vonstatten gehen kann, zeigt an, dass wohl immer schon
Medienwissenschaft betrieben worden ist, dass sie aus (technik)historischen
Gründen allerdings immer auf ein (oder wenige) Medien beschränkt geblieben ist.
Aber das exponentielle Wachstum des technischen Fortschritts machte es in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts notwendig, Logos in verschiedensten Codes
und verschiedensten Kanälen zu entdecken, so dass Philologie zwangsläufig
bedeutete, sich mit einer Bandbreite von Codes und Kanälen beschäftigen zu
müssen.
Die Ablösung der Schriftkultur ist also
Begründungslogik der Disziplin Medienwissenschaft. So erklärt sich auch, dass
ihre stärkste Forschungslinie in den letzten Jahrzehnten der Wandel der
Oralkultur zur Schriftkultur war. Da sind die gewichtigsten und
erkenntnisträchtigsten Arbeiten erschienen: Walter J. Ong: Oralität und
Literalität, Jack Goody: Die Logik der Schrift und die Organisation von
Gesellschaft, Goody/Watt/Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur,
Eric A. Havelock: Als die Muse schreiben lernte, Michael Giesecke: Der
Buchdruck in der frühen Neuzeit.[1]
Denn indem man diesen historisch gesicherten und mit vielen Quellen fassbaren
Wandel beschreibt, gewinnt man Kategorien, Modelle und Begriffe, um den gerade
stattfindenden Wandel begreifen zu können. Denn wenn auch sicher ist, dass die
Schriftkultur abgelöst ist, ist noch längst nicht klar, was die neue Kultur ist
und wie sie überhaupt zu untersuchen wäre.[2]
Dieser Punkt wiederum ist die Erklärung
dafür, warum es in der Medienwissenschaft so viele manifestische und
schamanistische Texte gegeben hat und immer noch gibt. Denn zum einen müssen
die sich selbst gesetzt habenden Medienwissenschaftler diese eigene Setzung
legitimieren und als einen immer noch andauernden Prozess deklarieren. Und zum
anderen ergibt sich aus der Ungewissheit, was sich gebildet haben wird,
zwangsläufig prophetisches Sprechen.
Positiv formuliert bedeutet dieser Manifestismus
und Schamanismus aber auch, dass, indem die Medienwissenschaft sich selbst als
Gegenstand der Beobachtung hat, sie demonstrieren (und nicht erklären) kann,
was Gegenstand von Medienwissenschaft ist: die Ausbildung von Formen, die ihre
Umgebung formen. Genau das ist das Grundprinzip, das Marshall McLuhan als
Stammvater der Medienwissenschaft als Disziplin, verfolgt hat und das er immer
wieder versucht hat, zum umschreiben:
Was wir [...] hier betrachten, sind die psychischen
und sozialen Auswirkungen der Muster und Formen, wie sie schon bestehende
Prozesse verstärken und beschleunigen. Denn die »Botschaft« jedes Mediums oder
jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der
Situation des Menschen bringt.[3]
Dass Medienwissenschaft, die sich mit der
Ausbildung von Formen und ihrer Wirkung auf die Ausbildung anderer Formen
beschäftigt, nicht umhin kann, sich über ihre eigene Form Gedanken zu machen
und mit ihrer eigenen Form zu argumentieren, erklärt auch ihre große Affinität
zu Magie und Alchimie, bei denen es ebenfalls darum geht, Formen zu handhaben
und die Umgebung zu formen.
Man denke an Arthur C. Clarkes Aussage, dass
jede hinreichend entwickelte Technologie zunächst wie Magie erscheinen muss.
Beispielsweise die Zauberstäbe, die ungefähr Anfang der 1990er Jahre aufkamen.
Plötzlich schwenkten da einige diese Stäbe durch die Luft, sprachen ein paar
Formeln und kurze Zeit später manifestierten sich Gegenstände wie Taxis oder
Pizzaschachteln in ihrer Umgebung, oder Menschen erschienen wie telepathisch
gesteuert. Dass Handys nicht als Magie wahrgenommen wurden, hatte nur damit zu
tun, dass ähnliche Formen wie Telephon und Funkgeräte vorher bereits
vorbereitenden Einfluss auf die Umgebung genommen hatten und die neue Form Handy
als Anschlussform verstanden werden konnte. Den eigenen Einfluss der Form Handy
auf die Formen gesellschaftlichen Umgangs und gesellschaftlicher Kommunikation
hat man erst später begonnen wahrzunehmen. Dass Handys nämlich gar keine
Telephone sind. Das wäre Gegenstand medienwissenschaftlicher Beschreibungen.
Medienwissenschaft folgt also selbst dem
Grundprinzip, das sie für Medien generell konstatiert: Dass sich jedes Medium
selbst setzt; aber dass sich jedes Medium erst einmal selbst den anderen
vermitteln muss, um die Selbstsetzung vonstatten gehen zu lassen. Selbstsetzung
bedeutet immer Selbstvermittlung.
2. Formen
Formen sind materiell und nicht-materiell,
institutionell und nicht-institutionell, traditionell und innovativ, konkret
und transzendent. Eine dieser Ausprägungen herauszugreifen und zu
verabsolutieren, bedeutet ein bestimmtes Verständnis von Medien festzusetzen
und zu verabsolutieren. Etwa das, was wir im Alltag »die Medien« nennen, wenn
wir davon sprechen, dass es »in den Medien« berichtet wurde. »Die Medien« in
diesem Verständnis sind die technisch-ökonomischen Komplexe, mit denen
Nachrichten und Unterhaltung seriell gefertigt und an ein großes Publikum
geliefert werden, das sich auf diese Komplexe eingestellt hat. Also ganz
konkret: Fernsehen, Radio, Zeitung, Printmagazin. Nichts anderes. Schon CDs,
Spielfilme und Bücher sind nicht mehr »die Medien«, obwohl sie aus ähnlichen
oder identischen technisch-ökonomischen Komplexen hervorgehen. Da man aber ein
anderes Verhältnis zu ihnen hat, mithin also eine andere Form des Umgangs mit
ihnen herausgebildet hat, versteht man sie anders.
Aber auch, wenn man eine bestimmte
Vorstellung davon hat, was »die Medien« sind, ist bei genauer Untersuchung
dieses Konzept unklar, in welcher Weise man sich auf Fernsehen, Radio, Zeitung
und Printmagazin bezieht. Jemand arbeitet »in den Medien«: das soll bedeuten,
dass jemand eine gestalterische Tätigkeit in einer Institution ausübt, die
Inhalte für Fernsehen, Radio, Zeitung oder Printmagazin produziert. Jemand taucht
»in den Medien« auf: das soll bedeuten, dass jemand Gegenstand der
Berichterstattung ist, die in Fernsehen, Radio, Zeitung und Printmagazin
verbreitet wird. »Die Medien« üben einen entscheidenden Einfluss auf unsere
Gesellschaft aus: das soll bedeuten, dass das Vorhandensein von Fernsehen,
Radio, Zeitung und Printmagazin, die Gesamtheit ihrer Berichterstattung und
auch die in den entsprechenden Institutionen beschäftigten Menschen eine
Machtposition innehaben.
Schon in diesen drei Beispielen der
Verwendung des so eindeutigen Konzepts »die Medien« sind drei verschiedene
Formen gemeint: ein Produktionsraum, Produkte und ein Machtverhältnis. Auch bei
der Beschränkung auf ein bestimmtes Verständnis von Medien stößt man also
wieder auf eine Vielzahl von Formen, von denen man wieder eine herausgreifen
könnte, um diese zu verabsolutieren. Man könnte zum Beispiel sagen, Medium ist
nur der technische Apparat, die Aspekte, dass er von Institutionen mit
entsprechenden Produkten bedient wird und dass er von Konsumenten in ihren
Lebensraum integriert wird, müssen außen vor bleiben. Aber auch dann begegnet
man wieder dem Phänomen, dass sich diese Form bei genauer Betrachtung nicht
definieren lässt. Wie kann es sein, dass ein tragbares Schwarzweißgerät mit
Frequenzreglern aus den 1960er Jahren und ein zwei Meter breiter
hochauflösender Flachbildschirm der 2000er Jahre beides Fernsehen sind? Und was
ist mit Fernsehempfang auf PC und Handy? Ist das Fernsehen? Oder Computer? Oder
Telephon? Und bei solchen Fragen ist die Oberfläche des Bildschirm noch gar
nicht berührt, die einmal einen unbewegt an einem Tisch sitzenden
Nachrichtensprecher zeigt, ein anderes Mal ein Musikvideo von The Prodigy. Und
Menschen können sich gegenseitig sagen, dass es das Fernsehen gibt, obwohl die
einen nur Nachrichtensendungen auf einem tragbaren Gerät schauen und die
anderen nur Musikvideos auf ihrem Computer. Und noch komplizierter: wie kann es
sein, dass zwei Personen denselben Röhrenbildschirm zuhause stehen haben, der
eine darauf aber nur dienstags abends von 9 bis 10 Uhr die Fernsehserie »Dr.
House« laufen lässt, der andere ausschließlich die »Metal Gear Solid«-Spiele
von der Playstation darauf erzeugen lässt.
Medienwissenschaft, so könnte man nun sagen,
kann also nicht funktionieren, weil sie ihren Gegenstand nicht greifen kann,
wenn jede Form sich wieder in Formen auflöst. Es sei denn, sie beschäftigt sich
mit dieser Auflösung der Formen und korrespondierend mit der Synthese von
Formen. Auch damit, dass bestimmte Formen Aggregatzustände darstellen und sich
immer wieder bestätigen und Permanenz behaupten können. Niklas Luhmann hat mit
Bezug auf Fritz Heider[4]
daraus den weitreichenden Schluss gezogen, dass man zwischen Medium und Form
unterscheiden müsse. Medien, so seine Auffassung, sind lose Kopplung von
bestimmten Elementen, Formen sind feste Kopplungen dieser bestimmten Elemente,
oder präziser: »Formen entstehen [...] durch Verdichtung von
Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Elementen, also durch Selektion aus
Möglichkeiten, die ein Medium bietet.«[5] Medien sind also bestimmte
Möglichkeitsbedingungen für Formen, besitzen selbst aber keinerlei Ausprägung;
sie lassen sich nur aus den Formen ableiten, die sie ermöglichen. Es muss das
Medium Fernsehen geben, weil wir von so vielen verschiedenen Formen wissen und
sagen, dass sie Fernsehen sind. Auch weil wir von vielen anderen Formen wissen,
dass sie kein Fernsehen sind. Eine Analyse des Mediums Fernsehen kann also nur
als Schlussfolgerung aus der Analyse immer wieder auftretender Formen und der
für sie typischen Kopplung bestimmter Elemente vonstatten gehen.
Medienwissenschaft, so lässt sich festhalten,
beschäftigt sich mit Formen, und zwar in drei Bereichen:
1.
Wie
ist es zu den Formen gekommen, wie sind sie geformt worden? die historische
Perspektive
2.
Wie
funktionieren die Formen als Formen? die gegenwartsbezogene Perspektive
3.
Wie
dienen diese Formen als Elemente weiterer Formen? eine zwar prospektive
Perspektive, aber wie jeder Prospekt notwendig gegenwartsbezogen, sinnvoller
wäre es also, es als die produktive bzw. die ästhetische Perspektive zu
bezeichnen
Medienwissenschaft beschäftigt sich nicht mit
Was-Fragen. Sie dient nicht dazu, dass So-sein eines Mediums zu definieren.
Denn das ist bei einer Variable beziehungsweise einer mathematischen Funktion
und als beide könnte man Medien auch verstehen nicht möglich. Die Frage, was
die Form einer Form ist, ist nicht nur semantisch paradox, sie entbehrt auch
jeglicher Referenz, denn eine Form besitzt keine Form, weil sie eine Beziehung
mehrerer Elemente ist. Steht eine Form mit anderen Formen in Beziehung, so sind
die Formen keine Formen mehr, sondern Elemente einer anderen Form.
3. Disziplin Medienwissenschaft
Es gab eine Pseudo-Legitimation im Anfang der
institutionalisierten Medienwissenschaft. Und zwar, dass sie für die
sogenannten neuen Medien zuständig sei, also das, was noch nicht seit
Jahrtausenden als Kunst legitimiert war, sondern erst entstanden war, aber eine
nicht zu leugnende Wirkungsmächtigkeit und Ästhetik besaß. Das war dann
zunächst Film, später dann Fernsehen. Medienwissenschaft wurde also verstanden
als philologische Praxis, die sich mit dem beschäftigt, was nicht bei den
anderen Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft,
Kunstwissenschaft verhandelt werden konnte. Von vornherein ein Sammelbecken,
das aber sehr schnell überzulaufen drohte. Denn in immer kürzeren Abständen
mussten immer neue neue Medien dort zwischengelagert oder verklappt werden, von
Video über Computer über Computerspiel über Handy bis Internet und DVD, samt
aller assoziierten künstlerischen Praktiken. Und es ist schlicht nicht mehr
möglich, nur noch der kunstwissenschaftliche Ausputzer zu sein, für alles, was
die anderen nicht machen wollten.
Aus diesem Dilemma gibt es nur zwei Auswege:
a) man definiert einzelne Künste und weist
ihnen eine entsprechende Disziplin zu, wie es mit der Filmwissenschaft öfter,
mit der Fernsehwissenschaft gelegentlich gemacht worden ist (und was auch die
Logik des Faches Theater-/Film-/Fernsehwissenschaft ist, das es an einigen
Universitäten gegeben hat)
und/oder b) man erkennt in diesem Prozess
eine implizite Logik und versteht diese als genau das, womit sich
Medienwissenschaft beschäftigt: mit der Ausbildung, Modifikation, Ablösung und
Renaissance von Formen.
Während es bei Lösung a) keine Probleme gibt,
die so entstandenen Disziplinen in den Fächerkanon einzusortieren, erfordert
Lösung b) eine genauere Abgrenzung von anderen Disziplinen, um insbesondere zu
verstehen, was Medienwissenschaft nicht machen sollte, um nicht ein anderer
Name für etwas zu sein, was schon längst mit bestimmter Methodik und bestimmter
Tradition gemacht wird.
Es lassen sich bestimmte Disziplinen
ausmachen, zu denen Medienwissenschaft Affinitäten aufweist bzw. mit denen sie
in Konkurrenz steht bzw. zu denen sie Alternative ist. Diese sind:
1.
Philosophie
2.
Kunstwissenschaften
(z. B. Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft, Bildende
Kunst, Filmwissenschaft)
3.
Kulturwissenschaft
4.
Technologie
5.
Soziologie
bzw. Anthropologie
Diese Disziplinen kann man zunächst grob und
stark vereinfacht nach ihrem Diskurs unterscheiden; sie zielen nämlich entweder
auf Materielles, wie die Technologie auf die Technik und die Soziologie auf die
Gesellschaft, oder sie befassen sich mit Ideellem, die Kunstwissenschaften mit
Künsten, die Philosophie mit Wahrheit und die Kulturwissenschaft mit etwas, was
zu definieren immer noch ihre dringlichste Aufgabe ist und was man vorläufig
als Kultur bezeichnen könnte. Man kann diese Diskurse aber zudem noch nach ihrer
Referenz klassifizieren: Technologie und Kunstwissenschaft haben Mittel zum
Gegenstand, Soziologie, Anthropologie und Kulturwissenschaft beschäftigen sich
im mathematischen Sinn mit Mitten. Die Referenz der Philosophie mit ihrem
Diskurs der Wahrheit ist schwieriger zu klassifizieren; es hilft, wenn man
bereits die medienwissenschaftliche Kategorie der Form einführt und die
Referenzen dementsprechend anders formuliert: Mittel sind das, mit dem geformt
wird, Mitten sind das, was geformt ist. Der Gegenstand der Philosophie befindet
sich zwischen dem, mit dem geformt wird, und dem, was geformt ist, er lässt
sich verstehen als das, was formt die Wahrheit nämlich, die als Mittler
zwischen Mittel und Mitte vermittelt.
In der Matrix, die nun durch die zwei Klassifizierungen
entstanden ist, befindet sich nun ein unbesetzter Platz: der Diskurs, der auf
das Materielle zielt und sich mit dem, was formt, beschäftigt also genau das,
was als Medienwissenschaft im Vorangegangenen definiert worden ist.
Das Schema erklärt aber auch, warum es so
schwierig ist, Medienwissenschaft zu greifen und zu definieren. Denn man ist
bei jeder Definition immer versucht zu sagen, das so etwas doch von den anderen
gemacht wird. Wenn Medienwissenschaft sich mit Technik beschäftigt, dann ist zu
fragen, was denn der Unterschied zu Technologie ist. Wenn Medienwissenschaft
sich mit dem Wandel der Gesellschaft beschäftigt, der durch die Ablösung der
Schrift als Hauptmedium hervorgerufen wird, dann wäre nachzufragen, ob das
nicht die Soziologie genau so macht. Wenn Medienwissenschaft sich mit der Form
eines literarischen Textes befasst, dann stellt sich die Frage, ob das nicht
eine typische Beschäftigung von Literaturwissenschaft ist. Diese Fragen sind
berechtigt, wenn Medienwissenschaft sich genau so eklektisch all den Phänomenen
widmet und eben nicht ihre Position reflektiert, von der aus sie die
Beziehungen zu den anderen Disziplinen unterhält. So wie in
Literaturwissenschaft, Philosophie oder Technologie immer schon auch
medienwissenschaftliche Fragestellungen eine Rolle gespielt haben ohne dass
es in diesen Disziplinen reflektiert gewesen wäre so spielen auch in der
Medienwissenschaft literaturwissenschaftliche, philosophische oder
technologische Fragestellungen eine Rolle und das zu reflektieren und die
Form dieser Rolle zu greifen ist einer der wichtigsten Ansprüche, den man an
Medienwissenschaft stellen muss.
Medienwissenschaft beschäftigt sich mit der
Form des literarischen Textes nicht, indem es die Mittel der Formgebung und die
Gestaltung auf einen künstlerischen Sinn hin untersucht, sondern, indem es von
seiner Form auf die real vorhandenen Möglichkeitsbedingungen einer solchen Form
schließt. Einen konkreten Roman wie etwa Die Blechtrommel zu analysieren
und seinen ästhetischen Wert zu bestimmen wäre eine genuin
literaturwissenschaftliche Frage; den konkreten Roman Die Blechtrommel
als Ausformung der Gattung Roman zu untersuchen und zu fragen, warum man ihn
als Roman begreift, obwohl andere Romane vor ihm und nach ihm völlig anders
aussehen, wäre bereits eine medienwissenschaftlich perspektivierte
literaturwissenschaftliche Frage; die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass
1959 immer noch so ein Gebilde wie Die Blechtrommel in der Gesellschaft
auftauchen und zum Gegenstand von Kommunikation werden konnte, wäre eine
medienwissenschaftliche Frage.
Oder noch ein Beispiel: Die Frage, ob das,
was ich hier über Medienwissenschaft behaupte, stimmt oder nicht, wäre eminent
philosophisch; die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass jemand wie ich an
dieser Stelle solche Behauptungen in genau dieser Art und Weise aufstellt, wäre
medienwissenschaftlich.
Medienwissenschaft, so ließe sich noch mal
anders formulieren, beschäftigt sich mit Bildungsprozessen, nicht mit
Produkten; sie ist eine Produktionsästhetik, in der auch die Produzenten
Gegenstand der Ästhetik sind, weil auch sie ausgebildete Formen eines
bestimmten Mediums sind Literatur formt sowohl literarische Werke wie auch
Literaten wie auch einen Literaturbetrieb. So betrachtet hat Medienwissenschaft
große Affinitäten zu Michel Foucaults Diskursanalyse, zu Pierre Bourdieus Feld-
und Habitustheorie und Michel De Certeaus Verbraucheranalysen.[6]
Das macht es es schwer, Medienwissenschaft von Soziologie abzugrenzen und
auch Luhmanns Konzepte sind ja zunächst einmal soziologische. Tatsächlich haben
sich im Prozess der Emanzipation der Medienwissenschaft von den
Kunstwissenschaften hier die größten Kongruenzen herausgebildet, so dass man
von Seiten der Soziologie aus (die sich ja in einer Krise befinden soll, was
aber nicht Gegenstand dieser Erörterung sein kann) sogar von einer
Teildisziplin sprechen könnte. Als Medienwissenschaftler würde man das
natürlich nicht tun, sondern auf die Eigenständigkeit der Disziplin pochen, was
aber nur überzeugt, wenn man das unterschiedliche Erkenntnisinteresse deutlich
macht und es ebenso deutlich verfolgt: Soziologie will menschliche Gemeinschaft
erklären und zieht dazu die Mittel und die Mittler der Vergemeinschaftung als
Erklärungen hinzu; Medienwissenschaft will die Prinzipien des Wechselspiels
zwischen Mitteln und Mitten erklären und hat als bevorzugten
Untersuchungsgegenstand Gemeinschaftsverbände und die Mittel ihrer
Vergemeinschaftung. Deshalb ist es ebenfalls zu kurz gedacht,
Medienwissenschaft als quasi-philosophische Betrachtung von Technik zu
verstehen; Techniken und darunter fällt Schreiben ebenso wie
Coladosenautomaten interessieren medienwissenschaftlich nur in Bezug auf
Mitten wie Gemeinschaften, zu denen sie in Beziehung stehen. Medienwissenschaft
denkt immer dazwischen, will immer die Regeln dieses Wechselspiels erfassen
nicht die Regeln der Technik und auch nicht die Regeln der Gemeinschaft, die
bekommt sie ja von Technologie bzw. Soziologie. Medienwissenschaft als
Wissenschaft von den Mittlern des Materiellen ist selbst Mittler zwischen
Disziplinen. Nicht als Metawissenschaft, die über allen anderen steht und über
alle anderen befindet, sondern als Interwissenschaft
4. Medienwissenschaft und Ästhetik
Es ging bisher darum, zu legitimieren, warum
ein Literaturwissenschaftler Medienwissenschaftler werden kann. Man kann den
Spieß aber auch umdrehen und aus der Tatsache, dass so viele
Medienwissenschaftler Literaturwissenschaftler sind, ableiten, dass man
Literaturwissenschaftler sein muss, um Medienwissenschaft betreiben zu können.
Und wenn nicht Literaturwissenschaftler, dann Musikwissenschaftler,
Theaterwissenschaftler oder Kunstwissenschaftler. Zumindest ausgebildet in
einer Disziplin, in der es explizit um Ästhetik geht. Denn Medienwissenschaft,
wenn sie nicht Medienphilosophie oder Medienwissenschaftswissenschaft ist (was
die bisherigen Ausführen waren), tut gut daran, sich in den Künsten und der
Populären Kultur auszukennen.
Stärker formuliert: Es ist absolut notwendig,
ein Verständnis von Formen zu haben, das nicht abstrakt, sondern intuitiv ist.
Denn um die flexible Formenbildung zu reflektieren und zu rationalisieren muss
man Einsicht in sie und Erfahrung mit ihr haben. In den Künsten lässt sich wie
in keinem anderen Bereich, Formgebung und Formentwicklung studieren, denn darum
ringen sie in ihrem Bestreben nach Schönheit: um den perfekten Ausdruck für das
»fraglos Bedeutend[e] [...], dessen Sinn fragwürdig bleibt«, wie Hans-Otto
Hügel Kunst definiert.[7]
Diese Präposition ist auch deshalb notwendig,
um eine weitere Abgrenzung zu verdeutlichen. Denn wenn sich, wie gesagt,
Medienwissenschaft mit der Ausbildung, Modifikation, Ablösung und Renaissance
von Formen beschäftigt, dann müsste sie sich auch mit Biologie, Geologie,
Kosmologie und Quantenmechanik beschäftigen. Täte sie das, würde allerdings
jeglicher Rest von Verbindung zum allgemeinen Begriff von Medien getilgt
werden, der ein irgenwie geartetes Konzept von Mittlern beinhaltet.
Medienwissenschaft ist keine Naturwissenschaft. Medienwissenschaft beschäftigt
sich mit gestalteten Formen, mithin also mit Gestalten. Und deshalb lernt sie
an der Ästhetik des fraglos Bedeutenden wie an der des Sinnvollen, »dessen
Bedeutung fraglich bleibt«[8]
des Populären wie auch an der des Sinnfreien, dessen Bedeutung eindeutig
ist was meine vorläufige Definition von Technik wäre. Die Beziehungen, die
diese ästhetischen Phänomene zu menschlichen Strukturen unterhalten, und den
wechselseitigen Einfluss, den beide auf einander ausüben, zu erfassen: das ist Aufgabe
von Medienwissenschaft. Dass es diese Beziehungen und Wechselwirkungen gibt,
ist seit dem Aufkommen von Massenmedien in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts manifest geworden, sie allerdings ausschließlich bei den
Massenmedien zu verorten ist ein epistemologische Schwäche, die die
institutionalisierte Medienwissenschaft begonnen hat, abzulegen.
5. Medienwissenschaftsmöglichkeiten
Es haben nur wenige Sätze der
Medienwissenschaft geschafft, weithin verbreitet und verwendet zu werden;
McLuhans Aussage, dass der Inhalt jedes Mediums wiederum ein Medium sei, ist
dabei der populärste. Allerdings auch einer der missverständlichsten.
Insbesondere die Literaturwissenschaft hat in den 1990er Jahren in sehr vielen
Aufsätzen auf diesen Satz Bezug genommen und damit ein Konzept zu belegen
versucht, das sie »Intermedialität« genannt hat. Ein Versuch, der ebenso
vieldeutig geriet, wie es das Reden von »den Medien« im Alltagssprachgebrauch
ist. Denn intermedial sollte sowohl die Kombination von Medien sein wie auch
der Medienwechsel, den bestimmte Stoffe vollzogen, wie auch der
»(fakultativ[e]) Bezug, den ein mediales Produkt zu einem Produkt eines andern
Mediums [...] herstellen kann«[9],
also so etwas wie »filmisch« geschriebene Passagen eines literarischen Textes.
Das Konzept krankte während seiner gesamten modischen Hochzeit an
unreflektierten Voraussetzungen. Es beschäftigte sich nicht mit Medien, sondern
nur mit ausgebildeten Formen; der Name »Interformalität« wäre deshalb
angemessener gewesen (hätte aber erheblich weniger modisches Potenzial gehabt).
Es beschäftigte sich nicht mit dem, was sich zwischen Medien abspielt, sondern
es betrachtete die ausgebildeten Formen einzelner Medien; ein Stück »filmisch«
geschriebener Prosa ist eine vom Medium Literatur herausgebildete Form, nicht
eine vom Medium Film. Und schon gar nicht die Form eines irgendwie gearteten
Mitteldings zwischen Literatur und Film; denn gäbe es dieses, dann hätte es
auch einen Namen und stünde neben Literatur und Film als eigenes Medium, das eigene
Formen hervorbrächte. Für die dann allerdings eine eigene Kunstwissenschaft
zuständig wäre. Doch so weit wollte die Literaturwissenschaft mit der
Intermedialität natürlich nicht gehen. Wie auch die Theaterwissenschaft, die
Kunstwissenschaft und die Musikwissenschaft nicht, die sich der Mode
anschlossen und sich das Adjektiv »intermedial« für die ästhetische
Leistungsfähigkeit der eigenen Kunst aneigneten.
Wenn sie über »Intermedialität« redeten, dann
setzten die Kunstwissenschaften erstens »Medien« gleich mit bestimmten
Apparaturen, die nur bestimmte Formen erzeugen können, und verstanden zweitens
die eigene Kunst als Hypermedium, das diese Apparaturen absorbieren und für die
eigenen Zwecke missbrauchen kann. Was nicht falsch ist, was aber dem Begriff des
»Intermedialen« zuwider läuft; in der Analyse der ästhetischen
Leistungsfähigkeit der Künste demonstrierten die Kunstwissenschaften nicht die
Auflösung sondern die Flexibilität einzelner Medien. Missverständlich ist
McLuhans Satz, dass der Inhalt jedes Mediums wieder ein Medium ist, weil Medium
Form ist, wenn es Inhalt wird, nicht mehr Medium. Und wohl auch nie Medium
gewesen ist, sondern immer Form. Der Satz müsste besser so formuliert sein: Der
Inhalt eines Mediums sind immer Formen, die schon Inhalt anderer Medien gewesen
sind wobei derselbe Satz gleichzeitig auch auf die erwähnten anderen Medien
zutrifft. Wenn man dieses Einanderbeinhalten nicht als sich selbst genügenden
Taschenspielertrick benutzen will, um ihn immer und immer wieder an jedem nur möglichen
Gegenstand zu demonstrieren was einen bestimmten Typus von gegenwärtiger
poststrukturalistischer Medienwissenschaft charakterisieren würde , muss man
darüber nachdenken, welche Schlüsse man daraus zieht.
Ein erster naheliegender Schluss wäre die
Suche nach Ursprungsmedien. Wenn Medien als Form zum Inhalt anderer Medien
werden können bzw. wenn alle Formen vorher Medien waren, die ihrerseits Formen
beinhalteten, die vorher Medien gewesen waren, dann gibt es vielleicht einen
Anfang dieses Prozesses: also die ersten Medien, die die ersten Formen
ermöglichen konnten. McLuhan hat solche Reihen aufgestellt, zum Beispiel diese:
Der Inhalt der Schrift ist Sprache, genauso wie das
geschriebene Wort Inhalt des Buchdrucks ist und der Druck wieder Inhalt des Telegrafen
ist. Auf die Frage: »Was ist der Inhalt der Sprache?« muß man antworten: »Es
ist ein effektiver Denkvorgang, der an sich nicht verbal ist.«[10]
Telegraphie beinhaltet Buchdruck beinhaltet
Schrift beinhaltet Sprache beinhaltet Denken, das wäre also die Reihe. Man wird
dann feststellen, dass andere Reihen zu ganz ähnlichen bzw. zu einem ganz
bestimmten Ergebnisrepertoire führen: neben Denken werden immer entweder Sehen,
Hören oder Fühlen auftauchen, sehr selten auch Riechen oder Schmecken. Die
Sehnsucht nach dem Ursprung führt also zu den menschlichen Sinnen und letztlich
zur Biologie. Denn mehr als Physiognomik und Chemie wird man dort nicht
beschreiben können. Ohne es gemerkt zu haben, ist man aus dem Wechselspiel von
Medium und Form ausgestiegen und im naturwissenschaftlichen Jenseits oder
Diesseits angelangt. Was wohl der Grund dafür ist, warum selbst McLuhan seine
Ableitungsreihen nur gelegentlich als illustratives Beispiel verwendet und
nicht zur Methode gemacht hat.
Ein anderer Schluss, den man aus dem Prinzip
des Einanderbeinhaltens ziehen kann, ist der, dass es keine Medien gibt. Wenn
Romane eine filmische Schreibweise haben können, wenn es Verfilmungen von
Romanen geben kann, wenn gedruckte Aufsätze den Text von gesprochenen Vorträgen
wiedergeben können, wenn Gemälde photographiert und in Büchern abgedruckt
werden können, wenn Musik als Untermalung von Fernsehsendung auftauchen kann,
wenn Telefongespräche Theateraufführungen sein können, wenn also alle Medien
alle Formen beinhalten können, dann gibt es wohl nur Formen und keine Medien.
Was radikal klingt, was aber die implizite Logik sehr vieler
medienwissenschaftlicher Vorträge, Aufsätze und Bücher ist. Deren einzige
Schwäche immer die methodisch seltsame Verrenkung war, dass die Darstellungen und
Analysen von Formen wie Spielfilme, Fernsehshows, Musikvideos, Computerspiele
immer noch auf Medien wie Film, Fernsehen, Video, Computer zurückgeführt werden
musste. Was nur mit Ontologismen gelingen konnte, die aus den Auflistungen von
Formen immer ein Eigentliches ableiteten wie beim literaturwissenschaftlichen
Intermedialitätskonzept geschehen.
6. Medienwissenschaft als Rhetorik
Verzichtet man auf die Vorstellung eines
übergelagerten Mediums, dann offenbart sich in der wahrgenommenen Formenkongruenz
ein jahrtausendealtes ästhetisches Prinzip, dem eine eigene wissenschaftliche
Disziplin zugeordnet war: Rhetorik, die Lehre von der Gestaltung der Rede. In
der Rhetorik ging es nie nur darum, wie ein Vortragstext zu schreiben ist; es
ging immer um alle Möglichkeiten und Kanäle, mit denen andere Menschen erreicht
werden können, es ging um Immaterielles, wie die Erfindung eines Vortrags, die
vorsprachliche Ordnung der Ideen, ihre Veräußerung und ihr Weiterleben im
kulturellen Gedächtnis. Es ging, zusammenfassend gesagt, um Tropen und Topoi,
um die Anordnungsfiguren und die Möglichkeiten ihres Entstehens. Die
logozentrische Revolution der Moderne hat eine so holistische Betrachtung von
Kulturphänomenen als esoterisch verdammt und die ehemalige Trias von Dialektik,
Grammatik und Rhetorik auf ein Doppel reduziert und als ästhetische Ideologie
durchgesetzt. Das konnte so lange funktionieren, wie Druck das einzige Mittel
zur massenhaften Verbreitung von Formen war, so lange die Menschen also in der
von McLuhan so eingängig bezeichneten »Gutenberg-Galaxis« lebten. Mit
Telegrafie, Fotografie und Phonographie und all den von ihnen abgeleiteten
Formen wurde diese Ordnung allerdings erschüttert. Angesichts der unendlichen
Vielfalt von Formen bei gleichzeitigem Auftreten von ähnlichen Formen an
verschiedenen Orten war kaum etwas anderes möglich, als eine rhetorische
Reaktion. Topoi und Tropen werden heute nicht mehr so genannt, aber die Rede
von bestimmten Formaten im Journalismus oder der Unterhaltung, von Standards im
Repertoire von Künstlern, von Stoffen, die crossmedial umgesetzt werden, von
Geschichten, die auf unterschiedliche Weise gebracht werden können, von Rollen,
die eingenommen oder ausgefüllt werden, all das zeigt, wie rhetorisch gedacht
und beschrieben wird.
Nehmen wir als Beispiel das ästhetische
Prinzip »Zitat«. Zum einen scheint niemand Probleme zu haben, diesen Begriff zu
verwenden, was auch bedeutet, das kein Probleme zu bestehen scheinen, Zitate zu
erkennen. Ein ganze Epoche wird sogar durch dieses Prinzip definiert: die
Postmoderne, in der wir uns, wie einige sagen, befinden, sei, so sagen
dieselben, gekennzeichnet durch die Aufgabe von Originalkonzepten zugunsten
einer eklektischen Zitiererei von Vergangenem. Und zitiert wird nicht nur in Anführungsstrichen
und mit Quellennachweis in der Fußnote, sondern in Literatur, Architektur,
Design, Malerei, Mode, Musik, Film, Fernsehen, Computerspiel. Kulturelle
Bildung demonstriert man am besten, indem man von irgendeinem Artefakt
kennerhaft sagen kann, es sei ein Zitat von diesem und jenem. Nimmt man es aber
genau und schaut sich die Originale und ihre sogenannten Zitate an, wird man in
den allermeisten Fällen überhaupt keine materiellen Übereinstimmungen
feststellen können. Mit einer philologischen Methode wird man dieses Problem
nicht lösen können; es wäre die Aufgabe einer Medienwissenschaft, die sich als
Rhetorik ernstnimmt, solche und ähnliche kulturellen Praxisphänomene
beschreiben und erklären zu können.
Das wichtigste Desiderat einer so verstandenen
Medienwissenschaft ist es, eine Kategorisierung der Elemente zu erstellen, die
sich zu loseren und festeren Kopplungen zusammenfinden können. Mit einem
Periodensystem der medialen Elemente oder einem morphologischen System würden
die allermeisten Phänomene, die momentan noch in einem unbeschreibbaren
Dazwischen intermedial verortet werden müssen, als konkrete Praktiken
handhabbar werden.
7. Medienwissenschaft als Mythologie
Man kann aber noch einen weiteren Schluss aus
dem festgestellten Prinzip des Einanderbeinhaltens ziehen. Im essentiellen Sinn
gibt es wohl nur Formen, und diese Formen sind historischen Wandlungsprozessen
unterworfen, aber die Menschen hören nicht auf, von bestimmten Medien zu
erzählen. Medien, zu dem Schluss kommt man dann, sind in einem ganz
grundsätzlichen Sinn Mythen: Ursprungserzählungen, die immer wieder neu erzählt
werden und mit dem jeweiligen Erfahrungsstand angereichert werden können. Dass
wir tagtäglich mit bestimmten Formen von Bewegtbildern konfrontiert werden bzw.
uns diesen aussetzen bzw. sogar solche Formen produzieren, lässt sich am besten
dadurch erklären, dass man eine übergeordnete Instanz namens »Fernsehen«
proklamiert, die für dieses Verhältnis verantwortlich gemacht werden kann. So
lange, bis der Mythos nicht mehr trägt und entweder zu Geschichte erstarren
muss, wenn das Medium zur überholten Apparatur erklärt wird wie Zootrop,
Thaumatoskop, Diorama oder Panorama, oder ganz einfach vergessen wird, weil er
einem anderen Mythos untergeordnet wird und zu einer Alternativfassung oder zu
einem Nebenstrang wird. So geschieht es zur Zeit mit Betamax, VHS, CD, DVD,
Mini-DV, Flash Memory und Blue-Ray, die alle zu ihrer Zeit als Revolution
verstanden und kommuniziert wurden, die aber nur als Skalierungen einer Form
erlebt wurden, die man gelegentlich als »Video« bezeichnet was aber nur
zurückhaltend geschehen ist, weil es immer auch »Audio« war und inzwischen auch
»Datei«. Hilfskonstruktionen wie »Audiovisuelle Medien« oder »Multimedia«
besaßen kein mythisches Potential und setzten sich nicht als kulturelle
Erzählung durch.
Es gibt noch einen medienwissenschaftlichen
Satz, der zum Gemeinplatz geworden ist, und der vom Satz des
Einanderbeinhaltens abgeleitet ist: dass Medien zu Beginn ihrer Existenz andere
Medien nachahmen müssen, um sich durchzusetzen. Seine Suggestivkraft bezieht er
daraus, dass er selbst mythisch operiert und von Ursprüngen und Akteuren namens
»Medien« erzählt. Dass dieser Satz im Widerspruch zum Satz des
Einanderbeinhaltens steht, der nämlich eine dauerhafte Nachahmung aller Medien
durch alle Medien behauptet, wird dabei nie reflektiert. Dennoch ist er
richtig, wenn man nur auf den Mythos von Medien als Essentialitäten und Akteure
verzichtet und »die Medien« als Mythensammlung begreift. Richtiger formuliert
muss der Satz lauten: Irgendwann wächst sich eine Variante oder ein Nebenstrang
eines Medienmythos so aus, dass sie als eigener Mythos verstanden und
weitererzählt wird. An diesem Punkt ist dann zweierlei vorhanden: die
Gewissheit, dass etwas Neues entstanden ist, weil ein eigenständiger Mythos
vorhanden ist, und das Gefühl, dass dieser Mythos sich noch sehr stark an einem
anderen orientiert, weil er ja aus diesem hervorgegangen ist. So ist es mit dem
Kino geschehen, das zu Beginn in Konkurrenz zum Theater und zum Varieté gesehen
wurde, so ist es geschehen mit dem Fernsehen, das zunächst als Konkurrenz zum
Kino erlebt worden ist, so geschieht es zur Zeit mit dem Internet, das
gleichzeitig als Konkurrenz zur Zeitung, zum Radio, zum Fernsehen, zum Telefon,
zum Brief, zum Buch und zur Gesellschaft gesehen wird. Wenn man denn am Begriff
der Intermedialität festhalten möchte, dann wäre er am ehesten geeignet, dieses
Prinzip der auseinander hervorgehenden, der konkurrierenden und wieder
zusammenlaufenden Mythen zu beschreiben. Denn hier passiert etwas »zwischen den
Medien« und nicht nur zwischen den Formen.
Wieviel Hohn und Spott musste der
Fernsehsender Sat 1 erdulden, weil er eine Zeitlang in seinem Programm die
Sparte » Der Filmfilm« hatte. Dabei war es wohl eine der sensibelsten und
reflexionsgesättigsten Reaktionen auf die beschriebenen Phänomene des
Einanderbeinhaltens und Konkurrierens. Niemand hatte sich daran gestört, dass
jahrzehntelang Spielfilme im Fernsehen laufen konnten, dass die
Auseinandersetzung mit diesen Filmen aber immer darauf hinauslief, dass Film
ein eigenes Medium darstellte und mit dem Komplex Kino in Verbindung gebracht
wurde. Und niemand hatte sich daran gestört, dass im selben Fernsehen
sogenannte »Fernsehfilme« laufen konnten, die genauso aussahen und genauso
funktionierten wie die Spielfilme, über die allerdings in den Filmgeschichten
und Filmwissenschaften kaum geredet wurde, weil dafür die Fernsehgeschichte und
die Fernsehwissenschaft zuständig war. Die tautologische Wendung »Filmfilm«
brachte dann nur diese paradoxe diskursive Praxis auf einen Begriff: es gibt
Filme, die sind Fernsehen, und es gibt Filme, die sind Film. Damit wurde
überhaupt nichts infragegestellt, sondern stattdessen bestätigt, dass es zwei
sehr stabile und fortschreibbare Mythen namens »Film« und »Fernsehen« gibt, die
von ähnlichen oder sogar identischen Formen handeln, von denen allerdings
unterschiedlich gesprochen werden kann.
Medien als Mythen zu begreifen erklärt auch,
warum Medien instinktiv immer mit technischen Apparaturen verwechselt werden.
Es läuft im Kino, sie ist im Fernsehen, er steht in der Zeitung, sie ist am
Telefon, Boris Becker ist im Internet: so lauten bestimmte Beschreibungen von
medialen Verhältnissen, die anschaulich werden können, weil es Materialitäten
gibt, die anzuschauen sind. Weil im Wohnzimmer ein Gerät steht, auf dem Show-
und Nachrichtensendungen laufen, ein anderes Gerät, mit dem ein sprachlicher
Kontakt zu jemand anderem hergestellt werden kann, und eine weitere Vorrichtung
auf dem Tisch liegt, die gedruckte Texte präsentiert, weil Menschen dabei
beobachtet werden können, dass sie in körperlicher Verbindung zu diesen
Apparaturen stehen, kann nicht bestritten werden, dass die Erzählungen von
Fernsehen, Telefon und Zeitung sich auf einen realen Gegenstand beziehen. Und
man hält an dieser Vorstellung von bestimmten Gegenständen auch dann noch fest,
wenn diese Gegenstände sich komplett gewandelt oder sogar verschwunden sind.
Wenn man inzwischen Menschen auf der Straße begegnet, die sich angeregt mit der
Luft unterhalten, dann stellt sich zwar ein gewisse Irritation ein, man kann
sich aber erzählen, dass sie wohl kleine Vorrichtungen im Ohr stecken haben
müssen, die sowohl Schallwellen produzieren wie auch aufnehmen können und dass
sie mit Geräten in ihren Taschen verbunden sind, die in Funkverbindung zu
entsprechenden Geräten bei anderen Leuten stehen. Dass es also dasselbe ist,
wie zuhause zu sitzen, ein längliches Stück Plastik mit einem Lautsprecher an
einem Ende und einem Mikrophon am anderen Ende ans Ohr zu pressen und über
Kabel mit einem Gerät verbunden zu sein, von dem ein weiteres, sehr langes
Kabel zu einem anderen Gerät führt. Dass diese Menschen also telephonieren.
Grundlage der Mythen von Medien sind
historische technische Beschränkungen bei der Erzeugung von bestimmten Formen.
Weil die bestimmte Form »kontinuierlich privat abrufbare Bewegtbilder mit Ton«
zuerst und relativ lange nur mit einem einzigen technischen Gerät erlebt werden
konnte, das von einem Hersteller »Television« genannt worden ist, wurde der
Gebrauch und die Gewöhnung an diese Form metonymisch mit diesem Gerät und dem
imaginären Apparat hinter ihm verwechselt. Selbst dann noch, als es sehr viele
verschiedene Geräte gab, die diese Form erzeugen konnten; sogar angesichts
ihrer verblüffender Fähigkeiten, auch noch andere Formen, die man nicht mit
Television in Verbindung bringen kann, zu erzeugen. Vom falschen Namen »fern
sehen« ganz abgesehen, der eher auf Teleskope und Ferngläser zutreffen würde,
für die aber ein anderer Mythos gesetzt und bearbeitet worden ist.
Medienwissenschaft muss genau diese Arbeit am
Mythos behandeln, das ist das zweite Desiderat, das man ausmachen kann. Genau
dann unterscheidet sie sich von Technologie auf der einen und von Soziologie
auf der anderen Seite. Auch wenn, wie von McLuhan bis Kittler die allermeisten
Medientheoretiker feststellten, die Technik determiniert, was mit ihr
angestellt werden kann, muss sie sich doch zumindest so geschickt eingerichtet
haben, um erstens hergestellt worden zu sein und zweitens auch weiter zu ihren
Zwecken benutzt zu werden. »Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren
Gedanken«, schrieb Nietzsche und hat auch weiterhin für einen Teil des
Gesamtkomplexes »Medien« recht. Aber unsere Gedanken arbeiten auch am Schreibzeug,
ständig. Und dann ist eine literaturwissenschaftliche Herkunft wohl wirklich
eine gute Grundlage, um das andauernde Erzählen von Medien in den Griff zu
bekommen.
© 2009 Mathias Mertens
[1] Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987; Jack Goody: Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1990; Jack Goody/Ian Watt/Kathleen Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur. Frankfurt a.M. 2003; Eric A. Havelock: Als die Muse schreiben lernte. Frankfurt a.M. 1992; Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 1991.
[2] Ein starker Kandidat ist die Netzwerkgesellschaft, so der gleichnamige Titel einer umfänglichen Untersuchung von Manuell Castells (Manuell Castells: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Stuttgart, 2003). In diese Richtung argumentieren auch Gilles Deleuze und Felix Guattari (Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Berlin, 1980) und Vilem Flusser (Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen, 1985.
[3] Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle, Düsseldorf, 1992. S. 17 f.
[4] Fritz Heider: Ding und Medium, Symposion I. 1926
[5]
Niklas Luhmann: »Das Medium der Kunst.« in: Ders.: Aufsätze und Reden.
Stuttgart: Reclam, 2001. S. 198-217. Hier: S. 200.
[6] Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Ffm. 2001; Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Ffm. 1982; Michel De Certeau: Die Kunst des Handelns. Berlin 1988.
[7]
Hans-Otto Hügel: »Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung. Eine Skizze
ihrer Theorie.« in: montage/av 2/1/1993. S. 134
[8] ebd.
[9] Rajewsky S. 17
[10] Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle, Düsseldorf, 1992. S. 18