Mathias Mertens
Mythologie und Rhetorik. Möglichkeiten einer Medienkulturwissenschaft

Antrittsvorlesung als Privatdozent an der Universität Hildesheim am 29. Januar 2009

1. Legitimation der Medienwissenschaft

 

Der das hier erzählt, ist ein ausgebildeter Literaturwissenschaftler. Ein Literatur­wissenschaftler, der erklärt, was Medienwissenschaft ist, weil er sie sich selbst beigebracht hat und aus eigenem Antrieb betreibt. Ein Dilettant also. In dieser Eigenschaft aber durchaus typisch. Denn das Merkmal von Medienwissenschaft in der Vergangenheit und auch noch in der Gegenwart ist, dass sich ihre Akteure selbst gesetzt haben. Und auch, dass sie in der Mehrheit Literaturwissenschaftler waren.

Dieses Phänomen muss erklärt werden und wird erklärt. Immer wieder. Man kann sogar behaupten, Medienwissenschaft besteht zunächst einmal darin, zu erklären, warum man sich als Literaturwissenschaftler zum Medienwissenschaftler machen kann. Der erste Teil der Erklärung lautet: Diese Metamorphose der Wissenschaftler ist Symptom für einen Wandel der Gesellschaft, die für ihre Selbstverständigung immer weniger auf die Schrift angewiesen ist und sich zunehmend auf andere Weisen der Wahrnehmung stützt, so dass sich auch ihre Selbstreflexion auf diese anderen Weisen beziehen muss. Der zweite Teil der Erklärung schließt daran an: Dass diese Metamorphose so selbstverständlich vonstatten gehen kann, zeigt an, dass wohl immer schon Medienwissenschaft betrieben worden ist, dass sie aus (technik)historischen Gründen allerdings immer auf ein (oder wenige) Medien beschränkt geblieben ist. Aber das exponentielle Wachstum des technischen Fortschritts machte es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts notwendig, Logos in verschiedensten Codes und verschiedensten Kanälen zu entdecken, so dass Philologie zwangsläufig bedeutete, sich mit einer Bandbreite von Codes und Kanälen beschäftigen zu müssen.

Die Ablösung der Schriftkultur ist also Begründungslogik der Disziplin Medienwissenschaft. So erklärt sich auch, dass ihre stärkste Forschungslinie in den letzten Jahrzehnten der Wandel der Oralkultur zur Schriftkultur war. Da sind die gewichtigsten und erkenntnisträchtigsten Arbeiten erschienen: Walter J. Ong: Oralität und Literalität, Jack Goody: Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, Goody/Watt/Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, Eric A. Havelock: Als die Muse schreiben lernte, Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit.[1] Denn indem man diesen historisch gesicherten und mit vielen Quellen fassbaren Wandel beschreibt, gewinnt man Kategorien, Modelle und Begriffe, um den gerade stattfindenden Wandel begreifen zu können. Denn wenn auch sicher ist, dass die Schriftkultur abgelöst ist, ist noch längst nicht klar, was die neue Kultur ist und wie sie überhaupt zu untersuchen wäre.[2]

Dieser Punkt wiederum ist die Erklärung dafür, warum es in der Medienwissenschaft so viele manifestische und schamanistische Texte gegeben hat und immer noch gibt. Denn zum einen müssen die sich selbst gesetzt habenden Medienwissenschaftler diese eigene Setzung legitimieren und als einen immer noch andauernden Prozess deklarieren. Und zum anderen ergibt sich aus der Ungewissheit, was sich gebildet haben wird, zwangsläufig prophetisches Sprechen.

Positiv formuliert bedeutet dieser Manifestismus und Schamanismus aber auch, dass, indem die Medienwissenschaft sich selbst als Gegenstand der Beobachtung hat, sie demonstrieren (und nicht erklären) kann, was Gegenstand von Medienwissenschaft ist: die Ausbildung von Formen, die ihre Umgebung formen. Genau das ist das Grundprinzip, das Marshall McLuhan als Stammvater der Medienwissenschaft als Disziplin, verfolgt hat und das er immer wieder versucht hat, zum umschreiben:

Was wir [...] hier betrachten, sind die psychischen und sozialen Auswirkungen der Muster und Formen, wie sie schon bestehende Prozesse verstärken und beschleunigen. Denn die »Botschaft« jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt.[3]

Dass Medienwissenschaft, die sich mit der Ausbildung von Formen und ihrer Wirkung auf die Ausbildung anderer Formen beschäftigt, nicht umhin kann, sich über ihre eigene Form Gedanken zu machen und mit ihrer eigenen Form zu argumentieren, erklärt auch ihre große Affinität zu Magie und Alchimie, bei denen es ebenfalls darum geht, Formen zu handhaben und die Umgebung zu formen.

Man denke an Arthur C. Clarkes Aussage, dass jede hinreichend entwickelte Technologie zunächst wie Magie erscheinen muss. Beispielsweise die Zauberstäbe, die ungefähr Anfang der 1990er Jahre aufkamen. Plötzlich schwenkten da einige diese Stäbe durch die Luft, sprachen ein paar Formeln und kurze Zeit später manifestierten sich Gegenstände wie Taxis oder Pizzaschachteln in ihrer Umgebung, oder Menschen erschienen wie telepathisch gesteuert. Dass Handys nicht als Magie wahrgenommen wurden, hatte nur damit zu tun, dass ähnliche Formen wie Telephon und Funkgeräte vorher bereits vorbereitenden Einfluss auf die Umgebung genommen hatten und die neue Form Handy als Anschlussform verstanden werden konnte. Den eigenen Einfluss der Form Handy auf die Formen gesellschaftlichen Umgangs und gesellschaftlicher Kommunikation hat man erst später begonnen wahrzunehmen. Dass Handys nämlich gar keine Telephone sind. Das wäre Gegenstand medienwissenschaftlicher Beschreibungen.

Medienwissenschaft folgt also selbst dem Grundprinzip, das sie für Medien generell konstatiert: Dass sich jedes Medium selbst setzt; aber dass sich jedes Medium erst einmal selbst den anderen vermitteln muss, um die Selbstsetzung vonstatten gehen zu lassen. Selbstsetzung bedeutet immer Selbstvermittlung.

2. Formen

Formen sind materiell und nicht-materiell, institutionell und nicht-institutionell, traditionell und innovativ, konkret und transzendent. Eine dieser Ausprägungen herauszugreifen und zu verabsolutieren, bedeutet ein bestimmtes Verständnis von Medien festzusetzen und zu verabsolutieren. Etwa das, was wir im Alltag »die Medien« nennen, wenn wir davon sprechen, dass es »in den Medien« berichtet wurde. »Die Medien« in diesem Verständnis sind die technisch-ökonomischen Komplexe, mit denen Nachrichten und Unterhaltung seriell gefertigt und an ein großes Publikum geliefert werden, das sich auf diese Komplexe eingestellt hat. Also ganz konkret: Fernsehen, Radio, Zeitung, Printmagazin. Nichts anderes. Schon CDs, Spielfilme und Bücher sind nicht mehr »die Medien«, obwohl sie aus ähnlichen oder identischen technisch-ökonomischen Komplexen hervorgehen. Da man aber ein anderes Verhältnis zu ihnen hat, mithin also eine andere Form des Umgangs mit ihnen herausgebildet hat, versteht man sie anders.

Aber auch, wenn man eine bestimmte Vorstellung davon hat, was »die Medien« sind, ist bei genauer Untersuchung dieses Konzept unklar, in welcher Weise man sich auf Fernsehen, Radio, Zeitung und Printmagazin bezieht. Jemand arbeitet »in den Medien«: das soll bedeuten, dass jemand eine gestalterische Tätigkeit in einer Institution ausübt, die Inhalte für Fernsehen, Radio, Zeitung oder Printmagazin produziert. Jemand taucht »in den Medien« auf: das soll bedeuten, dass jemand Gegenstand der Berichterstattung ist, die in Fernsehen, Radio, Zeitung und Printmagazin verbreitet wird. »Die Medien« üben einen entscheidenden Einfluss auf unsere Gesellschaft aus: das soll bedeuten, dass das Vorhandensein von Fernsehen, Radio, Zeitung und Printmagazin, die Gesamtheit ihrer Berichterstattung und auch die in den entsprechenden Institutionen beschäftigten Menschen eine Machtposition innehaben.

Schon in diesen drei Beispielen der Verwendung des so eindeutigen Konzepts »die Medien« sind drei verschiedene Formen gemeint: ein Produktionsraum, Produkte und ein Machtverhältnis. Auch bei der Beschränkung auf ein bestimmtes Verständnis von Medien stößt man also wieder auf eine Vielzahl von Formen, von denen man wieder eine herausgreifen könnte, um diese zu verabsolutieren. Man könnte zum Beispiel sagen, Medium ist nur der technische Apparat, die Aspekte, dass er von Institutionen mit entsprechenden Produkten bedient wird und dass er von Konsumenten in ihren Lebensraum integriert wird, müssen außen vor bleiben. Aber auch dann begegnet man wieder dem Phänomen, dass sich diese Form bei genauer Betrachtung nicht definieren lässt. Wie kann es sein, dass ein tragbares Schwarzweißgerät mit Frequenzreglern aus den 1960er Jahren und ein zwei Meter breiter hochauflösender Flachbildschirm der 2000er Jahre beides Fernsehen sind? Und was ist mit Fernsehempfang auf PC und Handy? Ist das Fernsehen? Oder Computer? Oder Telephon? Und bei solchen Fragen ist die Oberfläche des Bildschirm noch gar nicht berührt, die einmal einen unbewegt an einem Tisch sitzenden Nachrichtensprecher zeigt, ein anderes Mal ein Musikvideo von The Prodigy. Und Menschen können sich gegenseitig sagen, dass es das Fernsehen gibt, obwohl die einen nur Nachrichtensendungen auf einem tragbaren Gerät schauen und die anderen nur Musikvideos auf ihrem Computer. Und noch komplizierter: wie kann es sein, dass zwei Personen denselben Röhrenbildschirm zuhause stehen haben, der eine darauf aber nur dienstags abends von 9 bis 10 Uhr die Fernsehserie »Dr. House« laufen lässt, der andere ausschließlich die »Metal Gear Solid«-Spiele von der Playstation darauf erzeugen lässt.

Medienwissenschaft, so könnte man nun sagen, kann also nicht funktionieren, weil sie ihren Gegenstand nicht greifen kann, wenn jede Form sich wieder in Formen auflöst. Es sei denn, sie beschäftigt sich mit dieser Auflösung der Formen und korrespondierend mit der Synthese von Formen. Auch damit, dass bestimmte Formen Aggregatzustände darstellen und sich immer wieder bestätigen und Permanenz behaupten können. Niklas Luhmann hat mit Bezug auf Fritz Heider[4] daraus den weitreichenden Schluss gezogen, dass man zwischen Medium und Form unterscheiden müsse. Medien, so seine Auffassung, sind lose Kopplung von bestimmten Elementen, Formen sind feste Kopplungen dieser bestimmten Elemente, oder präziser: »Formen entstehen [...] durch Verdichtung von Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Elementen, also durch Selektion aus Möglichkeiten, die ein Medium bietet.«[5]  Medien sind also bestimmte Möglichkeitsbedingungen für Formen, besitzen selbst aber keinerlei Ausprägung; sie lassen sich nur aus den Formen ableiten, die sie ermöglichen. Es muss das Medium Fernsehen geben, weil wir von so vielen verschiedenen Formen wissen und sagen, dass sie Fernsehen sind. Auch weil wir von vielen anderen Formen wissen, dass sie kein Fernsehen sind. Eine Analyse des Mediums Fernsehen kann also nur als Schlussfolgerung aus der Analyse immer wieder auftretender Formen und der für sie typischen Kopplung bestimmter Elemente vonstatten gehen.

Medienwissenschaft, so lässt sich festhalten, beschäftigt sich mit Formen, und zwar in drei Bereichen:

1.      Wie ist es zu den Formen gekommen, wie sind sie geformt worden? – die historische Perspektive

2.      Wie funktionieren die Formen als Formen? – die gegenwartsbezogene Perspektive

3.      Wie dienen diese Formen als Elemente weiterer Formen? – eine zwar prospektive Perspektive, aber wie jeder Prospekt notwendig gegenwartsbezogen, sinnvoller wäre es also, es als die produktive bzw. die ästhetische Perspektive zu bezeichnen

Medienwissenschaft beschäftigt sich nicht mit Was-Fragen. Sie dient nicht dazu, dass So-sein eines Mediums zu definieren. Denn das ist bei einer Variable beziehungsweise einer mathematischen Funktion – und als beide könnte man Medien auch verstehen – nicht möglich. Die Frage, was die Form einer Form ist, ist nicht nur semantisch paradox, sie entbehrt auch jeglicher Referenz, denn eine Form besitzt keine Form, weil sie eine Beziehung mehrerer Elemente ist. Steht eine Form mit anderen Formen in Beziehung, so sind die Formen keine Formen mehr, sondern Elemente einer anderen Form.

3. Disziplin Medienwissenschaft

Es gab eine Pseudo-Legitimation im Anfang der institutionalisierten Medienwissenschaft. Und zwar, dass sie für die sogenannten neuen Medien zuständig sei, also das, was noch nicht seit Jahrtausenden als Kunst legitimiert war, sondern erst entstanden war, aber eine nicht zu leugnende Wirkungsmächtigkeit und Ästhetik besaß. Das war dann zunächst Film, später dann Fernsehen. Medienwissenschaft wurde also verstanden als philologische Praxis, die sich mit dem beschäftigt, was nicht bei den anderen – Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft, Kunstwissenschaft – verhandelt werden konnte. Von vornherein ein Sammelbecken, das aber sehr schnell überzulaufen drohte. Denn in immer kürzeren Abständen mussten immer neue neue Medien dort zwischengelagert oder verklappt werden, von Video über Computer über Computerspiel über Handy bis Internet und DVD, samt aller assoziierten künstlerischen Praktiken. Und es ist schlicht nicht mehr möglich, nur noch der kunstwissenschaftliche Ausputzer zu sein, für alles, was die anderen nicht machen wollten.

Aus diesem Dilemma gibt es nur zwei Auswege:

a) man definiert einzelne Künste und weist ihnen eine entsprechende Disziplin zu, wie es mit der Filmwissenschaft öfter, mit der Fernsehwissenschaft gelegentlich gemacht worden ist (und was auch die Logik des Faches Theater-/Film-/Fernsehwissenschaft ist, das es an einigen Universitäten gegeben hat)

und/oder b) man erkennt in diesem Prozess eine implizite Logik und versteht diese als genau das, womit sich Medienwissenschaft beschäftigt: mit der Ausbildung, Modifikation, Ablösung und Renaissance von Formen.

Während es bei Lösung a) keine Probleme gibt, die so entstandenen Disziplinen in den Fächerkanon einzusortieren, erfordert Lösung b) eine genauere Abgrenzung von anderen Disziplinen, um insbesondere zu verstehen, was Medienwissenschaft nicht machen sollte, um nicht ein anderer Name für etwas zu sein, was schon längst mit bestimmter Methodik und bestimmter Tradition gemacht wird.

Es lassen sich bestimmte Disziplinen ausmachen, zu denen Medienwissenschaft Affinitäten aufweist bzw. mit denen sie in Konkurrenz steht bzw. zu denen sie Alternative ist. Diese sind:

1.      Philosophie

2.      Kunstwissenschaften (z. B. Literaturwissen­schaft, Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft, Bildende Kunst, Filmwissenschaft)

3.      Kulturwissenschaft

4.      Technologie

5.      Soziologie bzw. Anthropologie

Diese Disziplinen kann man zunächst grob und stark vereinfacht nach ihrem Diskurs unterscheiden; sie zielen nämlich entweder auf Materielles, wie die Technologie auf die Technik und die Soziologie auf die Gesellschaft, oder sie befassen sich mit Ideellem, die Kunstwissenschaften mit Künsten, die Philosophie mit Wahrheit und die Kulturwissenschaft mit etwas, was zu definieren immer noch ihre dringlichste Aufgabe ist und was man vorläufig als Kultur bezeichnen könnte. Man kann diese Diskurse aber zudem noch nach ihrer Referenz klassifizieren: Technologie und Kunstwissenschaft haben Mittel zum Gegenstand, Soziologie, Anthropologie und Kulturwissenschaft beschäftigen sich im mathematischen Sinn mit Mitten. Die Referenz der Philosophie mit ihrem Diskurs der Wahrheit ist schwieriger zu klassifizieren; es hilft, wenn man bereits die medienwissenschaftliche Kategorie der Form einführt und die Referenzen dementsprechend anders formuliert: Mittel sind das, mit dem geformt wird, Mitten sind das, was geformt ist. Der Gegenstand der Philosophie befindet sich zwischen dem, mit dem geformt wird, und dem, was geformt ist, er lässt sich verstehen als das, was formt – die Wahrheit nämlich, die als Mittler zwischen Mittel und Mitte vermittelt.

In der Matrix, die nun durch die zwei Klassifizierungen entstanden ist, befindet sich nun ein unbesetzter Platz: der Diskurs, der auf das Materielle zielt und sich mit dem, was formt, beschäftigt – also genau das, was als Medienwissenschaft im Vorangegangenen definiert worden ist.

Das Schema erklärt aber auch, warum es so schwierig ist, Medienwissenschaft zu greifen und zu definieren. Denn man ist bei jeder Definition immer versucht zu sagen, das so etwas doch von den anderen gemacht wird. Wenn Medienwissenschaft sich mit Technik beschäftigt, dann ist zu fragen, was denn der Unterschied zu Technologie ist. Wenn Medienwissenschaft sich mit dem Wandel der Gesellschaft beschäftigt, der durch die Ablösung der Schrift als Hauptmedium hervorgerufen wird, dann wäre nachzufragen, ob das nicht die Soziologie genau so macht. Wenn Medienwissenschaft sich mit der Form eines literarischen Textes befasst, dann stellt sich die Frage, ob das nicht eine typische Beschäftigung von Literaturwissenschaft ist. Diese Fragen sind berechtigt, wenn Medienwissenschaft sich genau so eklektisch all den Phänomenen widmet und eben nicht ihre Position reflektiert, von der aus sie die Beziehungen zu den anderen Disziplinen unterhält. So wie in Literaturwissenschaft, Philosophie oder Technologie immer schon auch medienwissenschaftliche Fragestellungen eine Rolle gespielt haben – ohne dass es in diesen Disziplinen reflektiert gewesen wäre – so spielen auch in der Medienwissenschaft literaturwissenschaftliche, philosophische oder technologische Fragestellungen eine Rolle – und das zu reflektieren und die Form dieser Rolle zu greifen ist einer der wichtigsten Ansprüche, den man an Medienwissenschaft stellen muss.

Medienwissenschaft beschäftigt sich mit der Form des literarischen Textes nicht, indem es die Mittel der Formgebung und die Gestaltung auf einen künstlerischen Sinn hin untersucht, sondern, indem es von seiner Form auf die real vorhandenen Möglichkeitsbedingungen einer solchen Form schließt. Einen konkreten Roman wie etwa Die Blechtrommel zu analysieren und seinen ästhetischen Wert zu bestimmen wäre eine genuin literaturwissenschaftliche Frage; den konkreten Roman Die Blechtrommel als Ausformung der Gattung Roman zu untersuchen und zu fragen, warum man ihn als Roman begreift, obwohl andere Romane vor ihm und nach ihm völlig anders aussehen, wäre bereits eine medienwissenschaftlich perspektivierte literaturwissenschaftliche Frage; die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass 1959 immer noch so ein Gebilde wie Die Blechtrommel in der Gesellschaft auftauchen und zum Gegenstand von Kommunikation werden konnte, wäre eine medienwissenschaftliche Frage.

Oder noch ein Beispiel: Die Frage, ob das, was ich hier über Medienwissenschaft behaupte, stimmt oder nicht, wäre eminent philosophisch; die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass jemand wie ich an dieser Stelle solche Behauptungen in genau dieser Art und Weise aufstellt, wäre medienwissenschaftlich.

Medienwissenschaft, so ließe sich noch mal anders formulieren, beschäftigt sich mit Bildungsprozessen, nicht mit Produkten; sie ist eine Produktionsästhetik, in der auch die Produzenten Gegenstand der Ästhetik sind, weil auch sie ausgebildete Formen eines bestimmten Mediums sind – Literatur formt sowohl literarische Werke wie auch Literaten wie auch einen Literaturbetrieb. So betrachtet hat Medienwissenschaft große Affinitäten zu Michel Foucaults Diskursanalyse, zu Pierre Bourdieus Feld- und Habitustheorie und Michel De Certeaus Verbraucheranalysen.[6] Das macht es es schwer, Medienwissenschaft von Soziologie abzugrenzen – und auch Luhmanns Konzepte sind ja zunächst einmal soziologische. Tatsächlich haben sich im Prozess der Emanzipation der Medienwissenschaft von den Kunstwissenschaften hier die größten Kongruenzen herausgebildet, so dass man von Seiten der Soziologie aus (die sich ja in einer Krise befinden soll, was aber nicht Gegenstand dieser Erörterung sein kann) sogar von einer Teildisziplin sprechen könnte. Als Medienwissenschaftler würde man das natürlich nicht tun, sondern auf die Eigenständigkeit der Disziplin pochen, was aber nur überzeugt, wenn man das unterschiedliche Erkenntnisinteresse deutlich macht und es ebenso deutlich verfolgt: Soziologie will menschliche Gemeinschaft erklären und zieht dazu die Mittel und die Mittler der Vergemeinschaftung als Erklärungen hinzu; Medienwissenschaft will die Prinzipien des Wechselspiels zwischen Mitteln und Mitten erklären und hat als bevorzugten Untersuchungsgegenstand Gemeinschaftsverbände und die Mittel ihrer Vergemeinschaftung. Deshalb ist es ebenfalls zu kurz gedacht, Medienwissenschaft als quasi-philosophische Betrachtung von Technik zu verstehen; Techniken – und darunter fällt Schreiben ebenso wie Coladosenautomaten – interessieren medienwissenschaftlich nur in Bezug auf Mitten wie Gemeinschaften, zu denen sie in Beziehung stehen. Medienwissenschaft denkt immer dazwischen, will immer die Regeln dieses Wechselspiels erfassen – nicht die Regeln der Technik und auch nicht die Regeln der Gemeinschaft, die bekommt sie ja von Technologie bzw. Soziologie. Medienwissenschaft als Wissenschaft von den Mittlern des Materiellen ist selbst Mittler zwischen Disziplinen. Nicht als Metawissenschaft, die über allen anderen steht und über alle anderen befindet, sondern als Interwissenschaft

4. Medienwissenschaft und Ästhetik

Es ging bisher darum, zu legitimieren, warum ein Literaturwissenschaftler Medienwissenschaftler werden kann. Man kann den Spieß aber auch umdrehen und aus der Tatsache, dass so viele Medienwissenschaftler Literaturwissenschaftler sind, ableiten, dass man Literaturwissenschaftler sein muss, um Medienwissenschaft betreiben zu können. Und wenn nicht Literaturwissenschaftler, dann Musikwissenschaftler, Theaterwissenschaftler oder Kunstwissenschaftler. Zumindest ausgebildet in einer Disziplin, in der es explizit um Ästhetik geht. Denn Medienwissenschaft, wenn sie nicht Medienphilosophie oder Medienwissenschaftswissenschaft ist (was die bisherigen Ausführen waren), tut gut daran, sich in den Künsten und der Populären Kultur auszukennen.

Stärker formuliert: Es ist absolut notwendig, ein Verständnis von Formen zu haben, das nicht abstrakt, sondern intuitiv ist. Denn um die flexible Formenbildung zu reflektieren und zu rationalisieren muss man Einsicht in sie und Erfahrung mit ihr haben. In den Künsten lässt sich wie in keinem anderen Bereich, Formgebung und Formentwicklung studieren, denn darum ringen sie in ihrem Bestreben nach Schönheit: um den perfekten Ausdruck für das »fraglos Bedeutend[e] [...], dessen Sinn fragwürdig bleibt«, wie Hans-Otto Hügel Kunst definiert.[7]

Diese Präposition ist auch deshalb notwendig, um eine weitere Abgrenzung zu verdeutlichen. Denn wenn sich, wie gesagt, Medienwissenschaft mit der Ausbildung, Modifikation, Ablösung und Renaissance von Formen beschäftigt, dann müsste sie sich auch mit Biologie, Geologie, Kosmologie und Quantenmechanik beschäftigen. Täte sie das, würde allerdings jeglicher Rest von Verbindung zum allgemeinen Begriff von Medien getilgt werden, der ein irgenwie geartetes Konzept von Mittlern beinhaltet. Medienwissenschaft ist keine Naturwissenschaft. Medienwissenschaft beschäftigt sich mit gestalteten Formen, mithin also mit Gestalten. Und deshalb lernt sie an der Ästhetik des fraglos Bedeutenden wie an der des Sinnvollen, »dessen Bedeutung fraglich bleibt«[8] – des Populären – wie auch an der des Sinnfreien, dessen Bedeutung eindeutig ist – was meine vorläufige Definition von Technik wäre. Die Beziehungen, die diese ästhetischen Phänomene zu menschlichen Strukturen unterhalten, und den wechselseitigen Einfluss, den beide auf einander ausüben, zu erfassen: das ist Aufgabe von Medienwissenschaft. Dass es diese Beziehungen und Wechselwirkungen gibt, ist seit dem Aufkommen von Massenmedien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts manifest geworden, sie allerdings ausschließlich bei den Massenmedien zu verorten ist ein epistemologische Schwäche, die die institutionalisierte Medienwissenschaft begonnen hat, abzulegen.

5. Medienwissenschaftsmöglichkeiten

Es haben nur wenige Sätze der Medienwissenschaft geschafft, weithin verbreitet und verwendet zu werden; McLuhans Aussage, dass der Inhalt jedes Mediums wiederum ein Medium sei, ist dabei der populärste. Allerdings auch einer der missverständlichsten. Insbesondere die Literaturwissenschaft hat in den 1990er Jahren in sehr vielen Aufsätzen auf diesen Satz Bezug genommen und damit ein Konzept zu belegen versucht, das sie »Intermedialität« genannt hat. Ein Versuch, der ebenso vieldeutig geriet, wie es das Reden von »den Medien« im Alltagssprachgebrauch ist. Denn intermedial sollte sowohl die Kombination von Medien sein wie auch der Medienwechsel, den bestimmte Stoffe vollzogen, wie auch der »(fakultativ[e]) Bezug, den ein mediales Produkt zu einem Produkt eines andern Mediums [...] herstellen kann«[9], also so etwas wie »filmisch« geschriebene Passagen eines literarischen Textes. Das Konzept krankte während seiner gesamten modischen Hochzeit an unreflektierten Voraussetzungen. Es beschäftigte sich nicht mit Medien, sondern nur mit ausgebildeten Formen; der Name »Interformalität« wäre deshalb angemessener gewesen (hätte aber erheblich weniger modisches Potenzial gehabt). Es beschäftigte sich nicht mit dem, was sich zwischen Medien abspielt, sondern es betrachtete die ausgebildeten Formen einzelner Medien; ein Stück »filmisch« geschriebener Prosa ist eine vom Medium Literatur herausgebildete Form, nicht eine vom Medium Film. Und schon gar nicht die Form eines irgendwie gearteten Mitteldings zwischen Literatur und Film; denn gäbe es dieses, dann hätte es auch einen Namen und stünde neben Literatur und Film als eigenes Medium, das eigene Formen hervorbrächte. Für die dann allerdings eine eigene Kunstwissenschaft zuständig wäre. Doch so weit wollte die Literaturwissenschaft mit der Intermedialität natürlich nicht gehen. Wie auch die Theaterwissenschaft, die Kunstwissenschaft und die Musikwissenschaft nicht, die sich der Mode anschlossen und sich das Adjektiv »intermedial« für die ästhetische Leistungsfähigkeit der eigenen Kunst aneigneten.

Wenn sie über »Intermedialität« redeten, dann setzten die Kunstwissenschaften erstens »Medien« gleich mit bestimmten Apparaturen, die nur bestimmte Formen erzeugen können, und verstanden zweitens die eigene Kunst als Hypermedium, das diese Apparaturen absorbieren und für die eigenen Zwecke missbrauchen kann. Was nicht falsch ist, was aber dem Begriff des »Intermedialen« zuwider läuft; in der Analyse der ästhetischen Leistungsfähigkeit der Künste demonstrierten die Kunstwissenschaften nicht die Auflösung sondern die Flexibilität einzelner Medien. Missverständlich ist McLuhans Satz, dass der Inhalt jedes Mediums wieder ein Medium ist, weil Medium Form ist, wenn es Inhalt wird, nicht mehr Medium. Und wohl auch nie Medium gewesen ist, sondern immer Form. Der Satz müsste besser so formuliert sein: Der Inhalt eines Mediums sind immer Formen, die schon Inhalt anderer Medien gewesen sind – wobei derselbe Satz gleichzeitig auch auf die erwähnten anderen Medien zutrifft. Wenn man dieses Einanderbeinhalten nicht als sich selbst genügenden Taschenspielertrick benutzen will, um ihn immer und immer wieder an jedem nur möglichen Gegenstand zu demonstrieren – was einen bestimmten Typus von gegenwärtiger poststrukturalistischer Medienwissenschaft charakterisieren würde –, muss man darüber nachdenken, welche Schlüsse man daraus zieht.

Ein erster naheliegender Schluss wäre die Suche nach Ursprungsmedien. Wenn Medien als Form zum Inhalt anderer Medien werden können bzw. wenn alle Formen vorher Medien waren, die ihrerseits Formen beinhalteten, die vorher Medien gewesen waren, dann gibt es vielleicht einen Anfang dieses Prozesses: also die ersten Medien, die die ersten Formen ermöglichen konnten. McLuhan hat solche Reihen aufgestellt, zum Beispiel diese:

Der Inhalt der Schrift ist Sprache, genauso wie das geschriebene Wort Inhalt des Buchdrucks ist und der Druck wieder Inhalt des Telegrafen ist. Auf die Frage: »Was ist der Inhalt der Sprache?« muß man antworten: »Es ist ein effektiver Denkvorgang, der an sich nicht verbal ist.«[10]

Telegraphie beinhaltet Buchdruck beinhaltet Schrift beinhaltet Sprache beinhaltet Denken, das wäre also die Reihe. Man wird dann feststellen, dass andere Reihen zu ganz ähnlichen bzw. zu einem ganz bestimmten Ergebnisrepertoire führen: neben Denken werden immer entweder Sehen, Hören oder Fühlen auftauchen, sehr selten auch Riechen oder Schmecken. Die Sehnsucht nach dem Ursprung führt also zu den menschlichen Sinnen und letztlich zur Biologie. Denn mehr als Physiognomik und Chemie wird man dort nicht beschreiben können. Ohne es gemerkt zu haben, ist man aus dem Wechselspiel von Medium und Form ausgestiegen und im naturwissenschaftlichen Jenseits oder Diesseits angelangt. Was wohl der Grund dafür ist, warum selbst McLuhan seine Ableitungsreihen nur gelegentlich als illustratives Beispiel verwendet und nicht zur Methode gemacht hat.

Ein anderer Schluss, den man aus dem Prinzip des Einanderbeinhaltens ziehen kann, ist der, dass es keine Medien gibt. Wenn Romane eine filmische Schreibweise haben können, wenn es Verfilmungen von Romanen geben kann, wenn gedruckte Aufsätze den Text von gesprochenen Vorträgen wiedergeben können, wenn Gemälde photographiert und in Büchern abgedruckt werden können, wenn Musik als Untermalung von Fernsehsendung auftauchen kann, wenn Telefongespräche Theateraufführungen sein können, wenn also alle Medien alle Formen beinhalten können, dann gibt es wohl nur Formen und keine Medien. Was radikal klingt, was aber die implizite Logik sehr vieler medienwissenschaftlicher Vorträge, Aufsätze und Bücher ist. Deren einzige Schwäche immer die methodisch seltsame Verrenkung war, dass die Darstellungen und Analysen von Formen wie Spielfilme, Fernsehshows, Musikvideos, Computerspiele immer noch auf Medien wie Film, Fernsehen, Video, Computer zurückgeführt werden musste. Was nur mit Ontologismen gelingen konnte, die aus den Auflistungen von Formen immer ein Eigentliches ableiteten – wie beim literaturwissenschaftlichen Intermedialitätskonzept geschehen.

6. Medienwissenschaft als Rhetorik

Verzichtet man auf die Vorstellung eines übergelagerten Mediums, dann offenbart sich in der wahrgenommenen Formenkongruenz ein jahrtausendealtes ästhetisches Prinzip, dem eine eigene wissenschaftliche Disziplin zugeordnet war: Rhetorik, die Lehre von der Gestaltung der Rede. In der Rhetorik ging es nie nur darum, wie ein Vortragstext zu schreiben ist; es ging immer um alle Möglichkeiten und Kanäle, mit denen andere Menschen erreicht werden können, es ging um Immaterielles, wie die Erfindung eines Vortrags, die vorsprachliche Ordnung der Ideen, ihre Veräußerung und ihr Weiterleben im kulturellen Gedächtnis. Es ging, zusammenfassend gesagt, um Tropen und Topoi, um die Anordnungsfiguren und die Möglichkeiten ihres Entstehens. Die logozentrische Revolution der Moderne hat eine so holistische Betrachtung von Kulturphänomenen als esoterisch verdammt und die ehemalige Trias von Dialektik, Grammatik und Rhetorik auf ein Doppel reduziert und als ästhetische Ideologie durchgesetzt. Das konnte so lange funktionieren, wie Druck das einzige Mittel zur massenhaften Verbreitung von Formen war, so lange die Menschen also in der von McLuhan so eingängig bezeichneten »Gutenberg-Galaxis« lebten. Mit Telegrafie, Fotografie und Phonographie und all den von ihnen abgeleiteten Formen wurde diese Ordnung allerdings erschüttert. Angesichts der unendlichen Vielfalt von Formen bei gleichzeitigem Auftreten von ähnlichen Formen an verschiedenen Orten war kaum etwas anderes möglich, als eine rhetorische Reaktion. Topoi und Tropen werden heute nicht mehr so genannt, aber die Rede von bestimmten Formaten im Journalismus oder der Unterhaltung, von Standards im Repertoire von Künstlern, von Stoffen, die crossmedial umgesetzt werden, von Geschichten, die auf unterschiedliche Weise gebracht werden können, von Rollen, die eingenommen oder ausgefüllt werden, all das zeigt, wie rhetorisch gedacht und beschrieben wird.

Nehmen wir als Beispiel das ästhetische Prinzip »Zitat«. Zum einen scheint niemand Probleme zu haben, diesen Begriff zu verwenden, was auch bedeutet, das kein Probleme zu bestehen scheinen, Zitate zu erkennen. Ein ganze Epoche wird sogar durch dieses Prinzip definiert: die Postmoderne, in der wir uns, wie einige sagen, befinden, sei, so sagen dieselben, gekennzeichnet durch die Aufgabe von Originalkonzepten zugunsten einer eklektischen Zitiererei von Vergangenem. Und zitiert wird nicht nur in Anführungsstrichen und mit Quellennachweis in der Fußnote, sondern in Literatur, Architektur, Design, Malerei, Mode, Musik, Film, Fernsehen, Computerspiel. Kulturelle Bildung demonstriert man am besten, indem man von irgendeinem Artefakt kennerhaft sagen kann, es sei ein Zitat von diesem und jenem. Nimmt man es aber genau und schaut sich die Originale und ihre sogenannten Zitate an, wird man in den allermeisten Fällen überhaupt keine materiellen Übereinstimmungen feststellen können. Mit einer philologischen Methode wird man dieses Problem nicht lösen können; es wäre die Aufgabe einer Medienwissenschaft, die sich als Rhetorik ernstnimmt, solche und ähnliche kulturellen Praxisphänomene beschreiben und erklären zu können.

Das wichtigste Desiderat einer so verstandenen Medienwissenschaft ist es, eine Kategorisierung der Elemente zu erstellen, die sich zu loseren und festeren Kopplungen zusammenfinden können. Mit einem Periodensystem der medialen Elemente oder einem morphologischen System würden die allermeisten Phänomene, die momentan noch in einem unbeschreibbaren Dazwischen intermedial verortet werden müssen, als konkrete Praktiken handhabbar werden.

7. Medienwissenschaft als Mythologie

Man kann aber noch einen weiteren Schluss aus dem festgestellten Prinzip des Einanderbeinhaltens ziehen. Im essentiellen Sinn gibt es wohl nur Formen, und diese Formen sind historischen Wandlungsprozessen unterworfen, aber die Menschen hören nicht auf, von bestimmten Medien zu erzählen. Medien, zu dem Schluss kommt man dann, sind in einem ganz grundsätzlichen Sinn Mythen: Ursprungserzählungen, die immer wieder neu erzählt werden und mit dem jeweiligen Erfahrungsstand angereichert werden können. Dass wir tagtäglich mit bestimmten Formen von Bewegtbildern konfrontiert werden bzw. uns diesen aussetzen bzw. sogar solche Formen produzieren, lässt sich am besten dadurch erklären, dass man eine übergeordnete Instanz namens »Fernsehen« proklamiert, die für dieses Verhältnis verantwortlich gemacht werden kann. So lange, bis der Mythos nicht mehr trägt und entweder zu Geschichte erstarren muss, wenn das Medium zur überholten Apparatur erklärt wird wie Zootrop, Thaumatoskop, Diorama oder Panorama, oder ganz einfach vergessen wird, weil er einem anderen Mythos untergeordnet wird und zu einer Alternativfassung oder zu einem Nebenstrang wird. So geschieht es zur Zeit mit Betamax, VHS, CD, DVD, Mini-DV, Flash Memory und Blue-Ray, die alle zu ihrer Zeit als Revolution verstanden und kommuniziert wurden, die aber nur als Skalierungen einer Form erlebt wurden, die man gelegentlich als »Video« bezeichnet – was aber nur zurückhaltend geschehen ist, weil es immer auch »Audio« war und inzwischen auch »Datei«. Hilfskonstruktionen wie »Audiovisuelle Medien« oder »Multimedia« besaßen kein mythisches Potential und setzten sich nicht als kulturelle Erzählung durch.

Es gibt noch einen medienwissenschaftlichen Satz, der zum Gemeinplatz geworden ist, und der vom Satz des Einanderbeinhaltens abgeleitet ist: dass Medien zu Beginn ihrer Existenz andere Medien nachahmen müssen, um sich durchzusetzen. Seine Suggestivkraft bezieht er daraus, dass er selbst mythisch operiert und von Ursprüngen und Akteuren namens »Medien« erzählt. Dass dieser Satz im Widerspruch zum Satz des Einanderbeinhaltens steht, der nämlich eine dauerhafte Nachahmung aller Medien durch alle Medien behauptet, wird dabei nie reflektiert. Dennoch ist er richtig, wenn man nur auf den Mythos von Medien als Essentialitäten und Akteure verzichtet und »die Medien« als Mythensammlung begreift. Richtiger formuliert muss der Satz lauten: Irgendwann wächst sich eine Variante oder ein Nebenstrang eines Medienmythos so aus, dass sie als eigener Mythos verstanden und weitererzählt wird. An diesem Punkt ist dann zweierlei vorhanden: die Gewissheit, dass etwas Neues entstanden ist, weil ein eigenständiger Mythos vorhanden ist, und das Gefühl, dass dieser Mythos sich noch sehr stark an einem anderen orientiert, weil er ja aus diesem hervorgegangen ist. So ist es mit dem Kino geschehen, das zu Beginn in Konkurrenz zum Theater und zum Varieté gesehen wurde, so ist es geschehen mit dem Fernsehen, das zunächst als Konkurrenz zum Kino erlebt worden ist, so geschieht es zur Zeit mit dem Internet, das gleichzeitig als Konkurrenz zur Zeitung, zum Radio, zum Fernsehen, zum Telefon, zum Brief, zum Buch und zur Gesellschaft gesehen wird. Wenn man denn am Begriff der Intermedialität festhalten möchte, dann wäre er am ehesten geeignet, dieses Prinzip der auseinander hervorgehenden, der konkurrierenden und wieder zusammenlaufenden Mythen zu beschreiben. Denn hier passiert etwas »zwischen den Medien« und nicht nur zwischen den Formen.

Wieviel Hohn und Spott musste der Fernsehsender Sat 1 erdulden, weil er eine Zeitlang in seinem Programm die Sparte » Der Filmfilm« hatte. Dabei war es wohl eine der sensibelsten und reflexionsgesättigsten Reaktionen auf die beschriebenen Phänomene des Einanderbeinhaltens und Konkurrierens. Niemand hatte sich daran gestört, dass jahrzehntelang Spielfilme im Fernsehen laufen konnten, dass die Auseinandersetzung mit diesen Filmen aber immer darauf hinauslief, dass Film ein eigenes Medium darstellte und mit dem Komplex Kino in Verbindung gebracht wurde. Und niemand hatte sich daran gestört, dass im selben Fernsehen sogenannte »Fernsehfilme« laufen konnten, die genauso aussahen und genauso funktionierten wie die Spielfilme, über die allerdings in den Filmgeschichten und Filmwissenschaften kaum geredet wurde, weil dafür die Fernsehgeschichte und die Fernsehwissenschaft zuständig war. Die tautologische Wendung »Filmfilm« brachte dann nur diese paradoxe diskursive Praxis auf einen Begriff: es gibt Filme, die sind Fernsehen, und es gibt Filme, die sind Film. Damit wurde überhaupt nichts infragegestellt, sondern stattdessen bestätigt, dass es zwei sehr stabile und fortschreibbare Mythen namens »Film« und »Fernsehen« gibt, die von ähnlichen oder sogar identischen Formen handeln, von denen allerdings unterschiedlich gesprochen werden kann.

Medien als Mythen zu begreifen erklärt auch, warum Medien instinktiv immer mit technischen Apparaturen verwechselt werden. Es läuft im Kino, sie ist im Fernsehen, er steht in der Zeitung, sie ist am Telefon, Boris Becker ist im Internet: so lauten bestimmte Beschreibungen von medialen Verhältnissen, die anschaulich werden können, weil es Materialitäten gibt, die anzuschauen sind. Weil im Wohnzimmer ein Gerät steht, auf dem Show- und Nachrichtensendungen laufen, ein anderes Gerät, mit dem ein sprachlicher Kontakt zu jemand anderem hergestellt werden kann, und eine weitere Vorrichtung auf dem Tisch liegt, die gedruckte Texte präsentiert, weil Menschen dabei beobachtet werden können, dass sie in körperlicher Verbindung zu diesen Apparaturen stehen, kann nicht bestritten werden, dass die Erzählungen von Fernsehen, Telefon und Zeitung sich auf einen realen Gegenstand beziehen. Und man hält an dieser Vorstellung von bestimmten Gegenständen auch dann noch fest, wenn diese Gegenstände sich komplett gewandelt oder sogar verschwunden sind. Wenn man inzwischen Menschen auf der Straße begegnet, die sich angeregt mit der Luft unterhalten, dann stellt sich zwar ein gewisse Irritation ein, man kann sich aber erzählen, dass sie wohl kleine Vorrichtungen im Ohr stecken haben müssen, die sowohl Schallwellen produzieren wie auch aufnehmen können und dass sie mit Geräten in ihren Taschen verbunden sind, die in Funkverbindung zu entsprechenden Geräten bei anderen Leuten stehen. Dass es also dasselbe ist, wie zuhause zu sitzen, ein längliches Stück Plastik mit einem Lautsprecher an einem Ende und einem Mikrophon am anderen Ende ans Ohr zu pressen und über Kabel mit einem Gerät verbunden zu sein, von dem ein weiteres, sehr langes Kabel zu einem anderen Gerät führt. Dass diese Menschen also telephonieren.

Grundlage der Mythen von Medien sind historische technische Beschränkungen bei der Erzeugung von bestimmten Formen. Weil die bestimmte Form »kontinuierlich privat abrufbare Bewegtbilder mit Ton« zuerst und relativ lange nur mit einem einzigen technischen Gerät erlebt werden konnte, das von einem Hersteller »Television« genannt worden ist, wurde der Gebrauch und die Gewöhnung an diese Form metonymisch mit diesem Gerät und dem imaginären Apparat hinter ihm verwechselt. Selbst dann noch, als es sehr viele verschiedene Geräte gab, die diese Form erzeugen konnten; sogar angesichts ihrer verblüffender Fähigkeiten, auch noch andere Formen, die man nicht mit Television in Verbindung bringen kann, zu erzeugen. Vom falschen Namen »fern sehen« ganz abgesehen, der eher auf Teleskope und Ferngläser zutreffen würde, für die aber ein anderer Mythos gesetzt und bearbeitet worden ist.

Medienwissenschaft muss genau diese Arbeit am Mythos behandeln, das ist das zweite Desiderat, das man ausmachen kann. Genau dann unterscheidet sie sich von Technologie auf der einen und von Soziologie auf der anderen Seite. Auch wenn, wie von McLuhan bis Kittler die allermeisten Medientheoretiker feststellten, die Technik determiniert, was mit ihr angestellt werden kann, muss sie sich doch zumindest so geschickt eingerichtet haben, um erstens hergestellt worden zu sein und zweitens auch weiter zu ihren Zwecken benutzt zu werden. »Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken«, schrieb Nietzsche und hat auch weiterhin für einen Teil des Gesamtkomplexes »Medien« recht. Aber unsere Gedanken arbeiten auch am Schreibzeug, ständig. Und dann ist eine literaturwissenschaftliche Herkunft wohl wirklich eine gute Grundlage, um das andauernde Erzählen von Medien in den Griff zu bekommen.

 

© 2009 Mathias Mertens

 

 



[1] Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987; Jack Goody: Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1990; Jack Goody/Ian Watt/Kathleen Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur. Frankfurt a.M. 2003; Eric A. Havelock: Als die Muse schreiben lernte. Frankfurt a.M. 1992; Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 1991.

[2] Ein starker Kandidat ist die Netzwerkgesellschaft, so der gleichnamige Titel einer umfänglichen Untersuchung von Manuell Castells (Manuell Castells: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Stuttgart, 2003). In diese Richtung argumentieren auch Gilles Deleuze und Felix Guattari (Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Berlin, 1980) und Vilem Flusser (Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen, 1985.

[3] Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle, Düsseldorf, 1992. S. 17 f.

[4] Fritz Heider: Ding und Medium, Symposion I. 1926

[5] Niklas Luhmann: »Das Medium der Kunst.« in: Ders.: Aufsätze und Reden. Stuttgart: Reclam, 2001. S. 198-217. Hier: S. 200.

[6] Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Ffm. 2001; Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Ffm. 1982; Michel De Certeau: Die Kunst des Handelns. Berlin 1988.

[7] Hans-Otto Hügel: »Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung. Eine Skizze ihrer Theorie.« in: montage/av 2/1/1993. S. 134

[8] ebd.

[9] Rajewsky S. 17

[10] Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle, Düsseldorf, 1992. S. 18